Reminiszere
Eindrucksvoll hat Kees de Kort in der Neukirchener Kinderbibel Jesus im Gebet gemalt: Auf Händen und Knien ins Gebet vertieft, den Kopf gesenkt, der Hintergrund ist dunkel, die Bäume sind schwarz gegen den dunkelblauen Himmel nur zu erahnen. Jesus leuchtet vor diesem dunklen Hintergrund.
Vorher hat Jesus mit seinen Freunden das Passahfest gefeiert, so wie Juden sich das Fest wünschen: In der heiligen Stadt Jerusalem. Mit einem feierlichen Mahl. Lammfleisch, ungesäuertes Brot, bittere Kräuter, Wein. Wie es zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten gehört. Aber es war anders als jedes Passahfest vorher. Jesus hat seinen Jüngern auch davor schon geschildert, was mit ihm in Jerusalem geschehen wird: Dass er leiden und sterben wird. Aber irgendwie haben sie das immer verdrängt. Als sie jetzt Passah feiern, nimmt Jesus es wieder auf, mit großem Ernst und so deutlich, dass keiner mehr ausweichen kann: Mein Leib für euch gebrochen, mein Blut für euch vergossen. Jesus wird für sie sterben. „Einer wird mich verraten“, sagt Jesus und nennt Judas, sein Freund wie die anderen, Judas wird Jesus nach dem Essen verraten. Leiden und Sterben werden Wirklichkeit. Die Freunde beenden das Essen mit dem Lob Gottes. Und dann begleiten sie Jesus auf den Ölberg, an einen Ort der Gethsemane heißt.
Jesus nimmt Petrus, Jakobus und Johannes, die drei Jünger, die er auch bei seiner Verklärung mit auf den Berg genommen hat, mit in den Garten Gethsemane und bittet sie: Bleibt hier und wacht. So schildert es Markus, Matthäus ergänzt noch „mit mir“. Bleibt und wacht mit mir. Aber die Jünger, die dem angekündigten Leiden hilflos gegenüberstehen, flüchten in haltlose Versprechen und jetzt in den Schlaf. Jesus betet am Vorabend seines Todes. Er vertraut Gott so sehr, dass er ihm seine tiefsten Wünsche und Sehnsüchte anvertrauen kann, seinen Wunsch, dem Leiden zu entgehen, und im nächsten Moment sich Gottes Willen zu fügen. Dein Wille geschehe, beten wir im Vaterunser, „so geschehe dein Wille“, betet Jesus.
Unsere Bitten, Sehnsüchte und Wünsche auf der einen Seite und Gottes Wille auf der anderen stimmen in unserem Leben nicht immer überein. Manchmal wünschen wir uns etwas und erleben, dass es uns versagt bleibt. Kinder bitten darum, dass ihr krankes Haustier gesund wird, Teenager beten, dass ihre Gefühle erwidert werden, Schüler und Fahrschüler beten um das Bestehen ihrer Prüfungen, Eltern beten, dass ihre Kinder auf dem Schulweg nicht verunglücken, und Kranke bitten um Heilung ihrer Krankheit. Jesus betet darum, verschont zu werden.
Sein Gebet – so menschlich, eine Bitte, wie sie in der Not jeder von uns äußern würde: verschone mich und alle, die ich liebe, vor Leid und Tod – dieses so abgrundtief menschliche Gebet hat Ausleger über die Jahrhunderte immer wieder verstört und verärgert. Gibt sich Gottes Sohn hier nicht eine geradezu anstößige Blöße? So aufgewühlt und traurig zeigt er sich hier. Müsste Jesus seine Angst nicht souverän beherrschen? Müsste seine enge Beziehung zu Gott nicht verhindern, dass er überhaupt Angst hat? Vertraut er denn nicht seinen eigenen Ankündigungen, nach drei Tagen aus dem Grab aufzuerstehen?
Jesus betet hemmungslos, ohne Scheu, seine Angst, seine Not und sein Leid zu zeigen. Etwas, vor dem wir oft doch zurückscheuen. Können wir Gott so offen zeigen, dass es uns schlechtgeht, dass wir verzweifelt sind? Zeigt das nicht, dass es uns an Gottvertrauen fehlt?
Verwechseln wir aber umgekehrt Gottvertrauen dann nicht mit einer Haltung nach der Art „Augen zu und durch“? Gott zu vertrauen heißt für Jesus zuerst, dass er weiß, dass er auf Gott angewiesen ist und alles, was er braucht, von ihm erbitten kann, aber von niemandem sonst. Gottvertrauen heißt für Jesus auch, dass er vor Gott nicht vollkommen sein muss, dass er keine Stärke zeigen muss oder versuchen muss, selbst einen Ausweg zu finden – das ist, was die Jünger tun: Petrus, der verspricht, mit Jesus bis in den Tod zu gehen, der zum Schwert greift, um Jesus zu verteidigen, der Stärke zeigen will und doch flieht, zuerst in den Schlaf und später vom Hof des Statthalters.
Gottvertrauen heißt für Jesus, dass er ganz und gar Mensch sein kann, mit allen Sehnsüchten, Hoffnungen und Ängsten, egal, wie unrealistisch oder ungehörig sie für andere wirken mögen.
Gottes Wille, das sehen wir an Jesu Weg in der Karwoche, ist, dass der Tod überwunden wird und dass wir Menschen das sehen und daraus Hoffnung und Trost schöpfen. Dazu muss Jesus den Weg in Gefangenschaft und ans Kreuz und in den Tod gehen, der vor ihm liegt, und dazu muss er aus dem Grab auferstehen. Deshalb erfüllt Gott seine Bitte um Verschonung nicht.
Im Vaterunser geht die Bitte „Dein Wille geschehe“ weiter mit den Worten „wie im Himmel, so auf Erden“. Im Himmel ist Gottes Wille verwirklicht, ist der Tod bereits besiegt, gibt es keine Schmerzen, keine Angst, keine Krankheit und keinen Abschied mehr. Johannes verheißt es im 21. Kapitel seiner Offenbarung. Aber auf Erden ist es noch nicht so oder nur an vereinzelten Stellen. Gerade erleben wir, wieviel Not, Gewalt, Leid und Tod Putins Angriff über die Menschen in der Ukraine gebracht hat. Im Himmel ist es überwunden, auf der Erde hat es Macht über uns. Und so beten wir und hoffen, dass das Gute, der Friede, das Leben sich durchsetzt auch auf der Erde.
Jede Bitte um Frieden, um Heilung, um Leben, um Bewahrung, um Liebe und Angenommensein müsste doch im Einklang mit Gottes Willen stehen und müsste doch erfüllt werden. Wie könnte die Bitte um Frieden Gottes Willen nicht entsprechen? Und doch machen wir alle immer wieder die Erfahrung, dass bei weitem nicht jede Bitte in unserem Sinn erfüllt wird. Wäre es so, würden die Waffen schweigen, gäbe es weder Hunger noch Armut, gäbe es keine misshandelten Kinder und Frauen oder kranke Menschen mehr. Und hinter jeder unerfüllten Bitte stehen gescheiterte Zukunftspläne und zerplatzte Hoffnungen.
Wenn wir auf Jesus in Gethsemane schauen, erkennen wir, dass unsere Bitten auch in bester Absicht vorgebracht, nicht zwingend deckungsgleich mit Gottes Willen sind. Wir denken, unsere Sehnsucht nach Frieden entspräche Gottes Willen – aber in Gottes Willen, so hat es Jörg Zink einmal in einem Gebet formuliert, hat alles Raum, vorübergehend auch Elend, Krankheit und Schmerz, ohne dass sich uns der Sinn erschließen müsste. Gottes Wille bleibt uns oft dunkel und verschlossen. Luther sprach vom „verborgenen Gott“. Warum erfüllt Gott unsere Bitte nach Frieden nicht? Wir wissen es nicht. Aber das heißt nicht, dass wir resigniert aufhören sollten, unsere Sehnsucht nach Frieden vor Gott zu bringen. Um dann wie Jesus zu akzeptieren, das geschehen wird, was Gottes Wille ist.
In Jesus wurde Gott Mensch, bis in unsere größten Nöte und tiefsten Ängste. Damit es keinen Ort und keine Zeit gibt, an der Gott uns nicht nahe ist, keine Erfahrung, die er nicht verstünde. Und dann macht Jesus sich auf den Weg, um alles zu besiegen, was uns von Gottes Liebe trennt.
Wir wissen, dass Jesu Weg nicht mit Gethsemane und auch nicht auf Golgatha endete, sondern weiterführt zum offenen Grab am Ostermorgen, für Jesus und auch für uns.
Amen